Ein jeder von uns kennt sie. Umstände, egal welcher Art, die das Leben mit sich bringt und denen wir immer wieder vom Säuglingsalter an gegenüber stehen.
Als Kleinkind können wir aufgrund des noch nicht ausgebildeten Egos diese Umstände einfach akzeptieren und somit unwahrscheinlich schnell lernen. Ich denke dabei an das Greifen mit den Händen, den Weg vom Liegen übers Krabbeln bis hin zum eigenständigen Laufen, das eigenständige Essen mit Messer und Gabel, um nur ein paar wenige Dinge aufzuzählen. Doch sobald sich das Ego Stück für Stück weiter ausbildet fangen viele von uns an, recht schnell frustriert zu sein, wenn etwas nicht sofort funktioniert wie wir es uns vorstellen. Vor allem wenn wir sehen, dass andere uns eventuell schon einen Schritt voraus sind. Bereits hier kann und sollte man als Elternteil erkennen inwiefern das Kind mentale Unterstützung benötigt, um nicht zu verzweifeln und aufzugeben. Denn umso eher ein Mensch lernt mit Herausforderungen umzugehen, umso weniger wird sich dieser Mensch mit Problemen in seinem Leben konfrontiert sehen. Ganz gleich was ihm widerfahren wird.
Jetzt wird der ein oder andere denken, dass dies ja überhaupt nicht möglich ist. Ein Leben ohne Probleme. Und ich sage ganz klar, DOCH! Es ist möglich.
Wenn man lernt mit seinen Lebensumständen richtig umzugehen, dann verwandeln sich Probleme in Herausforderungen. Dies klingt jetzt vielleicht sehr banal und doch macht die Art und Weise wie wir einem Umstand begegnen und benennen einen gewichtigen Unterschied. So ist das Wort 'Problem' immer negativ behaftet. Wenn ich dieses Wort nun aber durch 'Herausforderung' ersetze, rücke ich jede Situation in ein ganz anderes Licht. Denn Herausforderungen bedeuten immer, dass man wachsen darf. Sei es geistig oder körperlich.
Wie wichtig diese und andere positive geistige Ausrichtungen sind, durfte ich am eigenen Leib erfahren.
Im Juli 2020 verunglückte ich mit meinem Motorrad. Einen Tag nach dem Unfall kam ich auf der Intensivstation zu mir und musste mir bewusst werden, was überhaupt passiert war. Ich wusste überhaupt nichts von meinem Unfall und das ist auch bis heute so geblieben. Doch was ich sehr schnell realisieren konnte war, dass ich meine Arme nicht mehr bewegen konnte. Ich konnte sie nicht mal mehr spüren. Gelähmt!
Die Diagnose: ein gebrochener Wirbel im Genick, direkt darüber eine Bandscheibe zu 50% im Rückenmark und zwei übereinander liegende Wirbel in der BWS, die gebrochen waren. Auf Anfrage beim zuständigen Arzt lagen meine Chancen bei 50 zu 50 meine Arme nach der bevorstehenden OP wieder bewegen zu können.
Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass ich zum Glück schon immer ein sehr positiv denkender Mensch war. Doch was ich in diesem Moment für Worte aus mir hervor brachte fasziniert mich noch heute. So sagte ich damals zu meiner Frau, welche in diesem Moment an meiner Seite war, einfach nur folgende zwei Sätze: ,Das Leben hat mir die Challenge (Herausforderung) gestellt. Ich geh da jetzt durch!'
Ich könnte nicht dankbarer sein für diese geistige Kraft, welche mir hier zu Teil wurde. War und ist es genau diese Kraft welche mich zurück ins Leben gebracht hat. Und das auf der Überholspur.
Vor meinem Unfall war ich immer ein sehr selbstständiger Mensch. Ich liebte meine Unabhängigkeit in sämtlichen Belangen. Auch werkelte ich gern herum und liebte es mit Holz zu arbeiten. Und auf einmal ist alles ganz anders. Das war keine Erkältung. Das war auch kein gebrochener Arm. Das war das Einlassen auf ein ganz neues Leben.
Fürs Erste akzeptierte ich die Situation wie sie war. Hatte ich doch keine Wahl. Meine Unabhängigkeit wurde mir in einer Sekunde meines Lebens vollständig genommen. Denn ohne die Arbeit beider Arme ist man allein nur noch schwer lebensfähig. Man wird gefüttert, gewaschen, nach der Toilette gereinigt, man ist nicht einmal in der Lage sich seine Tränen selber weg zu wischen. Man kann sich das ungefähr so vorstellen, als wenn man den Reset-Knopf drückt und plötzlich wieder Säugling ist. Nur, dass ich zum Glück noch reden konnte.
Doch das Schicksal meinte es gut mit mir. Einen Tag nach der OP konnte ich bereits meine beiden Arme wieder spüren und zumindest ganz leicht anheben. Die Hände waren jedoch nach wie vor vollständig gelähmt. Laut dem Arzt hatte ich allerdings noch zwei bis drei Monate Zeit um Fortschritte zu machen. Größere Veränderungen nach dieser Zeit sind wohl offenbar meist nicht möglich. Mit dieser Aussage und der Freude zumindest meine Arme wieder zu spüren und ein wenig bewegen zu können, war der Kampfgeist vollends geweckt.
Eine Woche nach der OP stellte ich dann ein leichtes Zucken in meinem Zeigefinger der rechten Hand fest. Auf der Stelle fing ich an ihn zu trainieren und konnte täglich beobachten, wie ich ihn Millimeter für Millimeter mehr bewegen konnte. Auch die anderen Finger der rechten Hand setzten langsam mit ein und eine Woche später konnte ich die rechte Hand bereits zur Hälfte schließen.
So war mein Krankenhausaufenthalt gefüllt mit Herausforderungen. Fing ich mit den ersten leichten Bewegungen in drei Fingern bereits wieder an selbst zu essen. Zumindest das Brot versuchte ich dann immer irgendwie auf meinen zwei Händen zu balancieren. Ich sah zwar danach aus wie ein Kleinkind, aber ich habe selbstständig gegessen. Was das erste Mal nach dem Unfall ein wahres Freudenfeuer in mir auslöste und mich Tränen vergießen ließ. Ich war einfach unglaublich glücklich und dankbar, ein halbes Brot selbstständig gegessen zu haben. Einer von vielen Momenten in dieser Zeit, in welchem ich die kleinen Dinge des Lebens nochmal einen ganz anderen Wert gegeben habe, welchen man oftmals aus Routine gar keine Beachtung mehr schenkt. So auch beim Thema Körperhygiene. Als ich meine rechte Hand wieder zur Hälfte schließen konnte, ließ ich meine Frau eine elektrische Zahnbürste kaufen. Vorher hatte ich immer herkömmliche benutzt. Diese war aufgrund der starken Bewegungseinschränkung für mich jedoch nicht optimal. Zu dünn zum halten und die Feinmotorik war ja gar nicht vorhanden. Die elektrische Zahnbürste hat dagegen einen viel dickeren Griff und macht die meiste Arbeit alleine. Und doch war sie immer noch zu dünn für mich um sie in meiner Hand zu halten. Also wieder eine neue Herausforderung. Ich fragte somit eine der vielen, wirklich sehr liebevollen Pflegerinnen, ob sie mir etwas Mullbinde um den Griff der Zahnbürste machen könne. Und siehe da, ungefähr drei bis vier Wochen nach meinem Unfall konnte ich wieder alleine Zähne putzen.
So ging ich die gesamte Zeit im Krankenhaus von einer Herausforderung zur Nächsten. So wie ich vorher meine Muskeln im Fitnesscenter trainiert habe, trainierte ich jetzt all die kleinen aber so wichtigen Dinge, um mich wieder zurück ins selbstständige Leben zu bringen. Und mit jedem weiteren Schritt nach vorn wurde der Ehrgeiz nur noch größer.
Ich lernte wieder laufen, mich selbst zu reinigen und so viele andere Dinge auf vollkommen neuen Wegen. Denn meine linke Hand war ja nach wie vor noch gelähmt. Hinzu kam, dass ich die rechte Hand zwar immer besser bewegen konnte, der Tastsinn aber nicht mehr richtig vorhanden war. Und doch verzweifelte ich in keiner Sekunde. Ich machte einfach immer weiter bis es irgendwann klappte. So erinnere ich mich auch noch an eine wunderschöne Situation mit einer Krankenschwester, welche eine Woche nach meiner OP für drei Wochen in den Urlaub ging. Als sie nach ihrem Urlaub dann wieder ihren ersten Tag Dienst hatte und das Zimmer betrat, in welchem ich mit zwei weiteren Patienten lag, saß ich gerade auf einem Stuhl und versuchte mir irgendwie die Schuhe zu binden. Als sie mich so sah, glaubte sie wahrscheinlich einen Geist zu sehen und fragte: 'Sven, bist du das?!'
Sie kannte mich ja nur als Vollpflegefall und jetzt saß ich vor ihr und wollte meine Schuhe binden. Das war eine von den Reaktionen, welche mir die Bestätigung gaben, dass ich auf dem richtigen Weg bin und ich alles schaffen kann, was ich schaffen möchte. Egal was andere sagen.
So verlief meine gesamte Zeit im Krankenhaus mit täglich neuen Herausforderungen, welche ich immer dankbar annahm. Und durch diesen Geisteszustand schaffte ich es in meinem Körper sämtliche Selbstheilungskräfte zu aktivieren und nach nicht mal zwei Monaten das Krankenhaus erhobenen Hauptes und selbstständig gehend zu verlassen. Und dafür bekam ich noch zwei Geschenke. Das erste Geschenk war, dass nur wenige Tage vor meiner Entlassung auch meine linke Hand langsam wieder zu arbeiten begann. Das zweite Geschenk war die Aussage von einer Ärztin, welche mir sagte, dass sie seit acht Jahren auf dieser Rückenmarkstation arbeite und so einen Heilungsprozess wie bei mir noch nie erlebt hat. Ist bei meinen Verletzungen ein halbes Jahr im Krankenhaus keine Seltenheit.
Ich darf sagen, dass ich noch nie so viel über das Leben gelernt habe wie in diesen zwei Monaten. Natürlich war der Heilungsprozess mit Verlassen des Krankenhauses nicht abgeschlossen. Dieser dauert nach wie vor an. Doch das wichtigste, was ich in dieser Zeit gelernt habe ist, dass man immer gut beraten ist, Umstände zu akzeptieren und die Herausforderungen des Lebens anzunehmen. So ist für mich heutzutage auch nichts mehr unmöglich. Ganz im Gegenteil. Alles ist möglich.
Und genau dies gebe ich heute auch sehr gern an jeden Interessierten weiter um mit meinem Wissen anderen eine helfende Hand zu sein. Hat doch die Zeit der Herausforderungen für mich vor vier Jahren erst richtig begonnen.
